Aus allen Himmelsrichtungen waren Gewerkschafter*innen aus der Fleischindustrie in der vergangenen Woche auf Einladung der „Fleischsektion“ der internationalen Gewerkschaftsföderation IUL* zur internationalen Fleischkonferenz im kanadischen Calgary zusammengekommen: aus Japan, Brasilien, den USA und Kanada und aus vielen europäischen Ländern: Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich und Schweden. Neben der veranstaltenden IUL war auch EFFAT, die europäische Dachorganisation der NGG, vertreten. Aus Deutschland waren Norbert Schäfersbirken und Susanne Uhl, Leiterin des NGG-Hauptstadtbüros, angereist. Beide haben seit vielen Jahren mit der deutschen Fleischindustrie zu tun: Schäfersbirken als Betriebsrat eines der vier größten Fleischunternehmen in Deutschland, Uhl ehemals für den DGB in Schleswig-Holstein. Beider Ziel war es viele Jahre lang, die Arbeits- und Lebenssituation der vorwiegend migrantischen Werkvertragsbeschäftigten zu verbessern.
Arbeits- und Gesundheitsschutz in Brasilien vor dem Aus
Besonders alarmiert waren die Teilnehmer*innen der Konferenz von der derzeitigen brasilianischen Situation. So stehen – sollte die Regierung des rechten Präsidenten Bolsonaro im Amt bestätigt werden – die so genannten NR-36-Vorschriften zum Arbeits- und Gesundheitsschutz im brasilianischen Fleischsektor vor dem Aus. Dies würde zu einer dramatischen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen von Fleischarbeiter*innen in Brasilien führen. Als Weltmarktführer bei Geflügelexporten liefert Brasilien auch 25 bis 40 Prozent des EU-Rindfleischs. Die Einführung von NR 36 in der Fleisch- und Geflügelverarbeitung war nach 15 Jahren nationaler und internationaler Kampagne für sicherere Arbeit im Jahr 2013 ein großer Fortschritt in Brasilien und inspiriert bis heute viele nationale Arbeitsschutzkampagnen. Auch Norbert Schäfersbirken hatte die internationale Kampagne damals mit unterstützt. In den Vorträgen und Gesprächen mit den brasilianischen Kollegen wurde nochmals deutlich, welchen Stellenwert der Austausch auf internationaler Ebene hat: Der Arbeits- und Gesundheitsschutz wurde in Calgary zum Schwerpunktthema der IUL-Fleischsektion für die kommenden Jahre erklärt.
Fleischarbeiterinnen brauchen besonderen Schutz
Der Schutz der weiblichen Beschäftigten in der Fleischindustrie war auch erklärter Schwerpunkt des ersten Treffens der Fleischarbeiterinnen, das auch künftig ausschließlich für Frauen in der Branche stattfinden soll. Dabei wurde deutlich, welche Auswirkungen ein ungesicherter Aufenthaltsstatus und nur befristete Beschäftigung haben: Sexuelle Übergriffe und Unterdrückung sind für Fleischarbeiterinnen dort, wo sie gemeinsam mit Männern in Unterkünften zusammengepfercht sind oder sich nicht zur Wehr setzen können, weil sie die Ausweisung oder den Arbeitsplatzverlust befürchten, bittere Realität. Dies ist auch der Fall im ansonsten viel gerühmten kanadischen Einwanderungsmodell, das Arbeitsmigrant*innen zunächst ein zweijähriges Aufenthaltsrecht garantiert. Aber auch der ganz normale Arbeits- und Gesundheitsschutz ist für Frauen häufig ein Problem: Maßnahmen und Abmessungen sind an männlichen Normen orientiert, zum Beispiel Tisch- und Fließbandhöhen. Zum größten Teil Frauen sind in Geflügelschlacht- und Zerlegebetrieben beschäftigt – so in Finnland und Großbritannien. Dort ist bei weitem nicht der Automatisierungsgrad erreicht, den wir im Geflügelbereich aus Deutschland mittlerweile kennen.
Vorbild Deutschland?
Was die internationalen Kolleg*innen an Deutschland interessierte, waren die langjährigen Auseinandersetzungen um das Verbot von Werkverträgen in der deutschen Fleischwirtschaft und dass wir dieses mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz aus dem Jahr 2020 endlich erreicht haben. Ein solches Ausmaß an Outsourcing gab und gibt es bis heute nirgends sonst auf der Welt. Was es aber gab und gibt, ist die Befürchtung, das deutsche System der Fleischindustrie könnte auch anderenorts Schule machen. Insofern stieß der NGG-Eröffnungsbeitrag der Konferenz auf großes Interesse und große Resonanz: ein guter Grund, den Kolleg*innen zu danken, für ihre Solidarität und Unterstützung über all die Jahre.
Verbesserungen „dank“ Corona
Dass sich ein Fenster für politischen Fortschritt in der Branche erst vor dem Hintergrund von Corona öffnete, ist dabei ebenso erschreckend wie eine weltweit geteilte Erfahrung: So berichteten die amerikanischen und kanadischen Kolleg*innen, dass sie erst während der Pandemie erreichen konnten, dass es bedeutende Gefahrenzulagen für die Kolleg*innen in der Fleischindustrie gab – und sie es in der Folge aber erreichen konnten, dass den Fleischarbeiter*innen diese Zulagen dauerhaft erhalten bleiben.
Deutlich am wenigsten Probleme mit Corona hatten die japanischen Kolleg*innen in der Fleischindustrie: Sie praktizieren seit Jahren mit Mundschutz und Handdesinfektion ein Modell, das alle anderen erst als effektiv erkennen mussten. Aber auch hier waren Überstunden an der Tagesordnung – in einer Arbeitszeitordnung, die eine Ausweitung des vorgeschrieben 8-Stunden-Tages auf maximal zehn Stunden zulässt. Auch daraus können wir noch lernen.
*IUL = Internationale Union der Lebensmittel-, Landwirtschafts-, Hotel-, Restaurant-, Catering- und Genussmittelarbeiter-Gewerkschaften. In ihr sind 407 Gewerkschaften aus 126 Ländern vertreten – so auch die NGG.