Rückblick Vor 50 Jahren: Willy Brandt spricht auf NGG-Kongress

11. September 2020

Der Besuch von Willy Brandt auf dem NGG-Kongress 1970 war der erste Besuch eines Bundeskanzlers auf einem Gewerkschaftstag einer DGB-Gewerkschaft.

Am 6. September 2020 war es auf den Tag genau 50 Jahre her, dass zum ersten Mal in der Geschichte der BRD ein Bundeskanzler auf einem Gewerkschaftstag einer DGB-Einzelgewerkschaft sprach: Willy Brandt (SPD) überbrachte zur Eröffnung des 6. Ordentlichen NGG-Gewerkschaftstags am 6. September 1970 in West-Berlin die Grüße der sozialliberalen Bundesregierung.

Im Großen Sendesaal des Senders Freies Berlin (SFB) erklärte Brandt: „Unser Volk will die Freundschaft mit dem Westen gewahrt wissen, aber unser Volk will auch die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn im Osten. Die Bundesrepublik befindet sich mit ihrer Politik in voller Übereinstimmung mit ihren westlichen Verbündeten und Partnern, die genau wie wir eine langfristige Friedenssicherung durch Abbau der politischen Spannungen und durch Beendigung des Wettrüstens wünschen.“ Und mit Blick auf das in Ost und West geteilte Berlin: „Berlin darf nicht eine Insel des Kalten Krieges bleiben.“

Wandel durch Annäherung

Die von Brandt vorangetriebene neue Ostpolitik „Wandel durch Annäherung“ legte sicherlich auch den Grundstein für die Deutsche Wiedervereinigung, deren 30. Jahrestag wir im Oktober diesen Jahres begehen. Aber der Besuch des Bundeskanzlers auf dem NGG-Gewerkschaftstag war auch in anderer Hinsicht von Bedeutung, wie der DER SPIEGEL (37/1970) schrieb: „Zum erstenmal kommen alle westdeutschen Arbeiterführer zum Kongreß der kleinen, nur wenig bekannten, aber gut organisierten NGG, bei der von den rund 500 000 Bäckern, Schlachtern, Bierbrauern, Kellnern, Fischern, Müllern und Zigarettenarbeitern der Branche, fast die Hälfte eingeschrieben sind. […] Mit ihrer Präsenz wollen die Spitzen des DGB und seiner Einzelgewerkschaften dem Katalog der gesellschaftspolitischen Forderungen, die von den 193 NGG-Delegierten beschlossen werden, Nachdruck verleihen. Denn auf dem NGG-Verbandstag werden Sozialdemokrat Willy Brandt und seine Regierungsmannschaft aufgefordert,

  • 'unverzüglich' die paritätische Mitbestimmung in allen Großunternehmen einzuführen und die Industrie-, Handels- und Handwerkskammern in paritätisch geleitete Wirtschaftskammern umzuwandeln;  
  • 'noch in diesem Jahr' das Betriebsverfassungsgesetz nach den Wünschen der Arbeitnehmer zu reformieren;
  • 'ohne Verzögerung alle Anstrengungen zu unternehmen', um die Umverteilung des Vermögens durch eine überbetriebliche Ertragsbeteiligung zu ordnen;  
  • 'endlich' die DGB-Forderungen nach Mietpreisbindung und nach Verhinderung der Bodenspekulation zu verwirklichen.

Bei dieser Regierung, so meint Stadelmaier*, hätten die Gewerkschaften endlich eine Chance voranzukommen, allerdings werde "der Zug auf der neuen, besseren Strecke nicht ins Paradies rollen."

In der Tat: Einige dieser Forderungen wurden unter den verschiedenen Regierungen im Laufe der Jahrzehnte zwar teilweise umgesetzt, andere sind heute – 50 Jahre später – aktueller denn je.

*Herbert Stadelmaier war von 1966 bis 1978 Vorsitzender der NGG.