Interview Tarifrunde 2024 Systemgastronomie „Die Leute sind sauer – wir wollen Bewegung in die Branche bringen“

31. Juli 2024

Rund 120.000 Beschäftigte arbeiten in der Systemgastronomie. Sie ist damit eine der großen tarifgebundenen Branchen im Bereich der Niedriglöhne.

Frage Johannes Specht (JS): In der letzten Tarifrunde 2019/2020 hatte die Gewerkschaft NGG - kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie - nach Streiks und Aktionen einen Abschluss erzielt und dabei die damals wichtige Marke von 12 € pro Stunde in der Einstiegslohngruppe erreicht. Das ist nun vier Jahre her. Warum gab es seitdem in der Branche keine Tarifverhandlungen mehr?

Mark Baumeister, Gewerkschaft NGG (MB): 2020 haben wir eine sehr lange Laufzeit vereinbart, und das bindet uns rechtlich. Wir konnten erst jetzt, mit Ende der Laufzeit zum Juni 2024, neue Forderungen aufstellen. Der Tarifabschluss 2020 war sehr gut und hat uns einen riesigen Schritt nach vorne gebracht – mit 28 % Lohnerhöhungen, über mehrere Stufen. Das war aber alles vor der Hochinflation und vor der außerordentlichen Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes auf 12 €. Zum Abschluss des letzten Tarifvertrages war der Mindestlohn noch bei 9,35 €. Durch die Anhebung des Mindestlohnes im Oktober 2022 auf 12 € wurden wir aber in den untersten Lohngruppen „eingeholt.“ Gut, dass wir im letzten Tarifvertrag einen Mindestabstand zum gesetzlichen Mindestlohn vereinbart haben. Aktuell liegt der Einstiegslohn im Tarifvertrag Systemgastronomie bei 12,61 €. Viel zu wenig!

JS: Was ist die NGG-Forderung in dieser Tarifrunde?

MB: Unsere NGG-Tarifkommission hat eine anspruchsvolle Forderung beschlossen: Wir wollen für alle Tarifgruppen ein Lohnplus von 500 € pro Monat. Der Einstiegslohn soll bei 15 € liegen. Zusätzlich fordern wir eine exklusive Sonderzahlung von 500 € nur für NGG-Mitglieder. Auch die Ausbildungsvergütungen sollen steigen, auf jeweils 1150 €, 1250 €, 1350 € in den drei Ausbildungsjahren. Das tarifliche Eingruppierungssystem in der Systemgastronomie ist veraltet. Das schafft Unklarheiten, wo jemand eingruppiert werden und welcher Lohn gezahlt werden muss. Das geht zulasten der Beschäftigten, die auch nach langjähriger Tätigkeit und mit der Übernahme von immer mehr Aufgaben im Restaurant kaum in höhere Tarifgruppen aufsteigen. Wir fordern eine komplette Überarbeitung der Eingruppierungssystematik, auch um die Bandbreite der Tätigkeiten in den unterschiedlichen Unternehmen und Systeme besser abbilden zu können: vom Barista bei Starbucks, über die Pizzabäckerin bis zur Kassenkraft am Autohof. Wir haben uns schon vor vielen Monaten auf den Weg gemacht und mit der Tarifkommission einen Entwurf für eine neue Eingruppierung erarbeitet. Darin wollen wir die Tätigkeit „am Produkt“ im sogenannten „rollierenden System“ aufwerten, zusätzliche Qualifikationen der Beschäftigten entlohnen und Teilzeitdiskriminierung aus dem Tarifvertrag verbannen.

JS: Und was sagt die Arbeitgeberseite zu diesem Forderungspaket?

MB: Tja, und da wird’s dann bitter. Am 16. Juli hatten wir die Auftaktverhandlung in Kassel. Wir haben unsere gut begründet und dargelegt, warum wir die geforderte Lohnerhöhung und die Überarbeitung der Eingruppierung brauchen. Die Arbeitgeberkommission hat zur Eingruppierung erstmal gar nichts gesagt und will uns bis zur nächsten Verhandlung (Mitte September, JS) eine Antwort geben. Bei der Lohnfrage wurde es – aus unserer Sicht – absolut bodenlos. Die Arbeitgeber präsentierten einen eigenen Vorschlag, der bei einer extrem langen Laufzeit von 54 Monaten – also bis Ende 2028 lediglich eine klitzekleine Lohnerhöhung vorsieht: In der Tarifgruppe 1 wären das Ende 2028 gerade mal 1,26 Euro/ Stunde mehr als heute. Das ist der Gegenwert von fünf Einwegpfandflaschen. Mal ganz abgesehen davon, dass wir mit großer Wahrscheinlichkeit vom gesetzlichen Mindestlohn überholt würden, ist das aus unserer Sicht frech den 120.000 Beschäftigten der Branche gegenüber. Hinzu kommt: : Es gibt schon jetzt einen heißen Kampf um Beschäftigte im Lohnniveau zwischen Mindestlohn und 15 €. Wie will die Branche in den nächsten Jahren Beschäftigte gewinnen, wenn sie nur Armutslöhne zahlt?   

JS: Was habt ihr jetzt vor?

MB: Unsere Strategie zielt auf mehrere Ebenen gleichzeitig. In den allermeisten der über 3.000 Standorte gibt es keinen Betriebsrat und oft nur eine kleine gewerkschaftliche Basis. Viele Beschäftigte, vor allem in den Einstiegslohngruppen, arbeitet erst seit kurzem in der Branche, die Fluktuation in der Systemgastronomie ist sehr hoch. Wir können die Tarifbewegung also kaum, wie in unseren Industriebranchen, auf eine breit aufgestellte gewerkschaftliche Struktur aufbauen. Deshalb sind die Information und Erstansprache der Beschäftigten so wichtig: Was ist überhaupt ein Tarifvertrag? Was macht eine Gewerkschaft? Warum ist es wichtig, sich zusammen mit den direkten Arbeitskolleg*innen einzusetzen und Gewerkschaftsmitglied zu werden, wenn man eine Lohnerhöhung bekommen will? Außerdem arbeiten wir mit Flugblättern in verschiedenen Sprachen, machen viel über die sozialen Medien, über WhatsApp-Kanäle, Podcasts und offene Videostreams ( NGG: Fast Food Workers United). Und drittens wollen wir in die Öffentlichkeit und unsere Netzwerke stärken: Die Rider von Lieferando z.B. fahren oftmals Essen von McDonalds und Co aus. Auch die kämpfen für einen Tarifvertrag beim Platzhirsch der Lieferdienste, Lieferando – und fordern auch einen Einstiegslohn von 15 € in der Stunde. Hier wollen wir uns gegenseitig unterstützen.

JS: Wie wichtig ist die Öffentlichkeitsarbeit in dieser Tarifrunde?

Es gibt eine hohe gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Thema. Viele Menschen sind empört, wenn sie hören, dass globale Konzernen, die wie McDonalds oder Burger King, Milliarden umsetzen und hohe Gewinne einfahren, ihren Mitarbeiter*innen nur Löhne knapp über dem Mindestlohn bezahlen. In ihr Image investieren diese Konzerne Millionen: Nachhaltigkeit, Umweltschutz, tolles Betriebsklima, gute Laune. Wie passt das zusammen, dass der Verband bis in die mittlere Zukunft Löhne zahlen will, die bei denen Beschäftigten auch nach 40 Berufsjahren nicht mit einer auskömmliche Renten rechnen können, sondern auf Unterstützung vom Staat angewiesen sind? Viele Beschäftigte der Systemgastronomie müssen in einem weiteren Job arbeiten, weil sie sonst nicht über die Runden kommen. Das machen wir ganz breit zum Thema.

JS: Und wie geht es jetzt weiter nach der ersten Verhandlung, wann wird gestreikt?

MB: Streiktermine geben wir nicht vorher bekannt, klar. Wir haben ein paar neue, kreative Ideen entwickelt, ich bin mal gespannt, wie das so ankommt. Für die zweite Septemberhälfte haben wir zwei weitere Verhandlungstermine mit dem Bundesverband der Systemgastronomie (BdS) vereinbart. Da wird der Arbeitgeberverband Farbe bekennen müssen: Gelingt eine echte Aufwertung der Arbeitsbedingungen, eine Überarbeitung der Eingruppierungssystematik? Und was bietet der BdS bei den Löhnen an - will der Verband weiter mit knappen Minilöhnen agieren? Das werden wir sicher nicht mitmachen. Die Leute sind zurecht sauer und wir wollen Bewegung in die Branche bringen.    

JS: Vielen Dank!

Rund 120.000 Beschäftigte arbeiten in der Systemgastronomie. Sie ist damit eine der großen tarifgebundenen Branchen im Bereich der Niedriglöhne. Im Arbeitgeberverband Bundesverband der Systemgastronomie (BdS) sind 830 Mitgliedsunternehmen organisiert, zum Teil die Unternehmen selbst (als auch – je nach System - Franchisenehmer Zur Systemgastronomie gehören unter anderem McDonalds, Burger King, Starbucks, Nordsee, ECP Areas/ ECP NP, Autogrill, L´Osteria, Maxi Autohöfe, Kentucky Fried Chicken, Vapiano, Pizza Hut und viele kleine, meist regionale Ketten. Aufgrund des Franchisesystems bei vielen Systemen, sind nicht immer alle Einzelbetriebe tarifgebunden, selbst wenn der übergeordnete Konzern Mitglied im BdS ist.   

Mark Baumeister ist Referatsleiter für das Gastgewerbe bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und Verhandlungsführer der NGG für die Tarifrunde Systemgastronomie. Weitere Informationen: NGG: Fast Food Workers United, Fast Food Workers United | Hamburg | Facebook,

Das Interview führte Johannes Specht. Er ist Referent am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und arbeitet zu Tarifbewegungen im Niedriglohnbereich (Dr. Johannes Specht - Hans-Böckler-Stiftung (boeckler.de)