Tarifgeschehen bei NGG Wachsen in der Krise

14. Februar 2024

Tarifrunde 2023 bei Coca-Cola / Foto: Genshagen

Die tarifpolitische Bilanz der NGG für das abgelaufene Jahr 2023 fällt positiv aus – hohe tabellenwirksame Tarifabschlüsse in der Hochinflationszeit haben die Belastungen der Menschen in der Lebensmittelindustrie deutlich abgefedert. Im Gastgewerbe stehen schwierige Verhandlungen bevor. Für 2024 sollen wieder hohe Tarifabschlüsse und zusätzlich die konkrete Entlastung der Beschäftigten, u.a. durch Arbeitszeitverkürzung, im Mittelpunkt der Tarifarbeit stehen Mit einer offiziellen Teuerungsrate von 5,9 Prozent stellte das Jahr 2023, wie schon das Jahr 2022 (6,9 Prozent Jahresinflation), die gewerkschaftliche Tarifarbeit vor lange nicht gekannte Herausforderungen. Jeder Abschluss unterhalb dieser Teuerungsrate bedeutet real einen Kaufkraftverlust für die Beschäftigten. Die tarifpolitische Empfehlung der NGG für das abgelaufenen Jahr, aufgestellt vom hauptsächlich ehrenamtlich besetzten Hauptvorstand, empfahl eine Konzentration auf hohe tabellenwirksame Tarifabschlüsse – und eine klare Einordnung von Einmalzahlungen, wie der Inflationsausgleichsprämie (IAP), als zweite Wahl.

Nach zwölf Monaten fällt die Bilanz der Umsetzung dieser tarifpolitischen Vorgaben positiv aus. In den insgesamt 275 Tarifrunden des Jahres 2023 wurden durchgehend hohe Abschlüsse in den Flächen- und Unternehmenstarifverhandlungen der Lebensmittelindustrie und des Bäckerhandwerks erzielt – in etlichen Fällen mit Entgeltsteige-rungen oberhalb von zehn Prozent. Der überwiegende Teil der Tarifabschlüsse wurde in Festbeträgen und nicht in prozentualen Steigerungen vereinbart. Das mildert die Belastungen der gestiegenen Preise gerade für Beschäftigte in den unteren und mittleren Entgeltgruppen. Insgesamt konnten wieder viele Abschlüsse mit kurzen Laufzeiten, meist von zwölf bis 14 Monaten, vereinbart werden. Die Auszahlung einer Inflationsausgleichsprämie (IAP) wurde nicht als Forderung von den Tarifkommissionen der NGG aufgestellt. Im Ergebnis aber wurden in fast allen Tarifabschlüssen IAP mit vereinbart, zusätzlich zu einer Tabellenerhöhung. In vielen Fällen aber nicht in der möglichen Gesamthöhe von 3.000 Euro, sondern meist im Bereich von einigen Hundert bis 2.000 Euro. Das Ziel, durch betrieblichen Druck aus den Belegschaften die Unternehmen zu einer Auszahlung einer IAP unabhängig von Tarifverhandlungen zu bewegen, wurde aber nur in einigen Fällen und nicht flächendeckend erreicht. Das bedeutet aber auch, dass in vielen Tarifrunden des Jahres 2024 die Arbeitgeberseite diese Option noch in die Tarifverhandlungen einbringen könnte – und dies sicherlich auch tun wird. Die Wachsamkeit gegenüber dem »süßen Gift« darf also auch im Jahr 2024 nicht nachlassen – vorerst aber letztmalig, denn Ende 2024 läuft die Möglichkeit der IAP aus. Es hat sich gezeigt, dass Beschäftigte und Belegschaften sehr wohl verstehen, dass eine steuerfreie Einmalzahlung gegenüber einer dauerhaften Tabellensteigerung schon nach wenigen Jahren die schlechtere Wahl ist.

Tarifabschlüsse in der Lebensmittelindustrie

Die Lebensmittelindustrie ist – neben dem Gastgewerbe mit den Teilbranchen Hotellerie, Betriebsgastronomie, Systemgastronomie (McDonalds, Burger King, Starbucks usw.), Restaurants und Cafés, Freizeitparks, Lieferdiensten u.a. – einer der zwei großen Organisationsbereiche der NGG. Sie ist die viertgrößte Industriebranche Deutschlands, mit einem Umsatz von 207 Milliarden Euro in 2022 (Zahlen zu 2023 liegen noch nicht vor), 600.000 Arbeitsplätzen und einem durchschnittlichen Anteil der Löhne und Gehälter am Umsatz von zehn Prozent. Aus der Vielzahl der über 200 Tarifabschlüsse des Jahres 2023 aus dem Bereich der Lebensmittelindustrie können wir nur einige wenige hervorheben: Die Ländertarifverträge in der Brauwirtschaft wurden, meist nach Arbeitskämpfen, mit bis zu zwölf Prozent Tabellenerhöhung abgeschlossen, dazu meist 3.000 Euro IAP, bei Laufzeiten von 24 bis 27 Monaten. In den Länderverhandlungen der Brotindustrie stehen als Ergebnis zwischen 8,5 und 9,9 Prozent Tabellenerhöhung und 200 Euro Erhöhung der Auszubildendenvergütung, zusätzlich eine IAP von bis zu 1.500 Euro, bei 13 Monaten Laufzeit. In den Ländertarifrunden der Mineralbrunnenindustrie konnten z.B. in Baden-Württemberg 350 Euro, in NRW und im Tarifgebiet Hessen/Rheinland-Pfalz/Saarland 400 Euro mehr pro Monat erreicht werden, das sind ca. 16 Prozent im Einstiegslohn und ca. zwölf Prozent im Ecklohn, bei 22 bzw. 24 Monaten Laufzeit und mit einer IAP. Schon in der letzten Jahresbilanz der NGG-Tarifarbeit (siehe express 3-4/2023) haben wir von der Tarifkampagne im Osten der Republik berichtet: Unter dem Motto »Die Lohnmauer einreißen« soll die Ost-West-Angleichung der Löhne und Arbeitsbedingungen gelingen. Dieses Ziel wurde in 2023 konsequent weiterverfolgt, mit vorzeigbaren Ergebnissen. Bei dem Unternehmen Ospelt Food, das Pizza für Lidl herstellt, gibt es Lohnerhöhungen von über 14 Prozent und 500 Euro IAP für die Beschäftigten. Damit steigen die Einstiegslöhne in den nächsten 1,5 Jahren auf 14,96 Euro. Das tarifflüchtige Unternehmen Gutena (bekanntestes Produkt ist Filinchen) konnte wieder in die Tarifbindung geholt werden. Es gibt mehr Lohn, eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich um zwei Stunden, höhere Zuschläge für Nachtarbeit und 30 Tage Urlaub für alle.

Bei Aryzta, einem der führenden Unternehmen für Tiefkühlbackwaren Deutschlands, konnte nach massiven Streiks an den beiden ostdeutschen Standorten Eisleben und Nordhausen ein Manteltarifvertrag abgeschlossen werden. Dieser enthält erhebliche Verbesserungen für die 1.400 Beschäftigten bei Zuschlägen für Nacht- und Mehr-arbeit, Arbeit an Samstagen und Feiertagen, dazu 30 Tage Urlaub und ein volles 13. Monatsgehalt sowie die Erhöhung der tariflichen Altersvorsorge. Besonderes Augenmerk galt der Entlastung, so konnten zusätzliche Schicht- und Altersfreitage erreicht werden. Etliche weitere Tarifbewegungen zu Verbesserungen bei manteltariflichen Regelungen und zur Angleichung der Löhne waren zu Redaktionsschluss noch offen. Bemerkenswert, dass hier seit einigen Jahren eine konsequente Tarifarbeit geführt werden kann, die auf hohe Forderungen und harte Auseinandersetzungen baut – und die Tarifarbeit eng auf eine Einbindung und Mobilisierung der Belegschaften setzt. Bei den Schlachtkonzernen Vion und Westfleisch, nach dem Tönnieskonzern die Nummern Zwei und Drei der Fleischbranche mit zusammen 13.000 Beschäftigten, konnten 2023 gute Abschlüsse, bei Vion nach Streiks, erzielt werden. Bei Westfleisch steigen die Entgelte um elf Prozent, bei Vion zwischen elf und 13,5 Prozent, bei 15 Monaten Laufzeit. Beide Konzerntarifverträge enden fast parallel mit dem allgemeinverbindlichen Branchenmindestlohn Tarifvertrag zum Jahresende 2024. Das verspricht eine spannende Tarifrunde in der Fleischbranche zum Jahreswechsel 2024/2025. Sehr schleppend gestalten sich die Verhandlungen bei einem weiteren großen Tarifprojekt, mit dem die Schlachtbranche endlich aus dem tariflichen Schattendasein herausgeführt werden soll: Erstmalig soll ein Manteltarifvertrag für alle Unternehmen der Branche abgeschlossen werden, um jenseits des Lohnes u.a. Arbeitszeiten, Zuschläge, Urlaubstage und Jahressonderzahlungen zu verbessern. Das Ziel, zu dem sich auch die Arbeitgeberseite 2022 verpflichtet hatte: ein allgemeinverbindlicher Manteltarifvertrag, der somit für alle (bisher meist tariflosen) Unternehmen der Branche gilt. Hier wird sich im Jahr 2024 zeigen, ob die Unternehmen wirklich an einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen interessiert sind.

Bei Coca-Cola, dem mit 6.500 Beschäftigten größten Erfrischungsgetränkehersteller in Deutschland, existiert ein Konzerntarifvertrag über Entgelte. In zwei Tarifabschlüssen im Jahr 2023 konnten Tabellenerhöhungen als Festbetrag von 670 Euro in vier Steigerungsstufen vereinbart werden, von Februar 2023 bis März 2025. Im Ecklohn sind das zusammengenommen knapp 21 Prozent in der Tabelle Nordrhein-Westfalen. In der Ecklohngruppe der Facharbeiter:innen stehen damit im März 2025 Werte zwischen 3.718 Euro und 4.000 Euro in den Tariftabellen.

Die Süßwarenindustrie ist mit 60.000 Beschäftigten eine der großen Teilbranchen der Lebensmittelindustrie, die Entgelte werden auf der Ebene der Bundesländer verhandelt. 2023 aber gab es in Absprache mit der Arbeitgebervereinigung BDSI erstmalig eine einheitliche Tarifrunde, die Länder-ETV wurden bundesweit zusammen verhandelt. Die Forderung der NGG-Tarifkommission war hoch: 500 Euro mehr pro Monat für Beschäftigte in den unteren Entgeltgruppen, 400 Euro im Ecklohn und darüber, für Auszubildende 200 Euro. Diese Forderung entspricht 22 bis 27 Prozent in den Einstiegslöhnen der unterschiedlichen Länder-Tabellen und ca. 15 Prozent in den Ecklöhnen. Die Monatsbruttoentgelte im Bereich der Facharbeiter:innen (Eckentgelt) lagen vor der Tarifrunde bei 3.217 Euro bis 3.325 Euro, die Einstiegsentgelte bei 1.800 Euro bis 2.175 Euro. Das ist im Vergleich zu anderen Tariftabellen der Lebensmittelindustrie ein niedriges Niveau. So liegen u.a. die Entgelte in der Brauwirtschaft, den Molkereien, der Zucker- oder der Zigarettenindustrie um einige hundert Euro darüber. Die Forderung für die Süßwarenrunde zeigt zum einen den Willen der Tarifkommissionen zu einer deutlichen Bevorzugung der unteren und mittleren Einkommen, zum anderen ist sie Ausdruck davon, dass die Gewerkschaftsmitglieder der Branche den Anschluss an andere Entgeltniveaus der Lebensmittelindustrie schaffen wollen.

Nach zwei ergebnislosen Verhandlungsrunden im April und Mai 2023 wurden Anfang Juni auf wenige Tage konzentriert Streiks in 62 Betrieben durchgeführt, davon etliche erstmalig, mehrstündig und oft schichtübergreifend. In einigen Zentren der Süßwarenindustrie, so in Aachen, Berlin, Lübeck und Hamburg, wurden die Streiks am selben Tag durchgeführt, um mit zentralen Streikdemonstrationen auch in der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen. In einer dritten Verhandlung gelang der Abschluss: 350 Euro mehr für Beschäftigte in den unteren Tarifgruppen (15 bis 19 Prozent in den Einstiegslöhnen), 300 Euro im Ecklohn (ca. neun Prozent) und darüber, 175 Euro mehr Ausbildungsvergütung sowie 1.000 Euro IAP, bei 14 Monaten Laufzeit.

Damit stehen in der Süßwarenindustrie 2024 erneut Entgeltverhandlungen an, die allerdings wieder auf der Ebene der Bundesländer durchgeführt werden – der Arbeitgeberverband BDSI wollte keine weitere bundesweite Entgeltrunde. Für die NGG wird es darauf ankommen, diese Ländertarifrunden gut zu koordinieren. Im April 2024 werden sich alle Länder-Tarifkommissionen zu einer gemeinsamen Tarifkonferenz treffen, um die Forderungen aufeinander abzustimmen – ebenso sollen Verhandlungs- und mögliche Aktionszeiträume abgesprochen werden. In der Süßwaren-Tarifrunde 2023 wurden 2.500 neue Mitglieder gewonnen, die größte Steigerung seit Jahrzehnten.

Und das Hotel- und Gaststättengewerbe?

Im Hotel- und Gastgewerbe sind die Rahmenbedingungen für Tarifarbeit gänzlich anders als in den Industriebranchen. In den Länder-Tarifrunden im Gastgewerbe kam es in der Zeit der Corona-Maßnahmen 2020/21 – bei teilweisem Lockdown der Hotels und Gaststätten sowie der zum 1. Oktober 2022 erfolgten Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro – erst zu einem mehrmonatigen Stillstand der Tarifverhandlungen, aber zwischen Herbst 2021 und Frühsommer 2022 gab es in allen Ländern Abschlüsse mit erheblichen Lohnsteigerungen in allen Tarifgruppen. Aktuell stehen die ersten Folgeverhandlungen über Entgelterhöhungen nach dieser außergewöhnlichen Gastgewerbe-Tarifrunde 2021/22 an. Erste Abschlüsse gelangen in den Tarifgebieten Berlin und Brandenburg bei den Entgelten: In Berlin steigen die Tarifentgelte um 14,5 Prozent im Ecklohn, zusätzlich gibt es Verbesserungen bei Urlaubstagen und Zuschlägen. Erstmalig wurde eine Wahloption vereinbart: Von der Jahressonderzahlung können bis zu fünf Tage bezahlt frei genommen werden. Im Tarifgebiet Brandenburg steigen die Entgelte um 17 bis fast 21 Prozent, bei einer Laufzeit von 24 Monaten. In Hessen konnten ebenfalls bessere Urlaubsregelungen, Erhöhungen des Weihnachtsgeldes und der Zuschläge verhandelt werden.

Das stimmt positiv, allerdings gestalten sich die ebenfalls gestarteten Entgeltverhandlungen im Gastgewerbe im Saarland, in Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein schwierig. In Konzerntarifverträgen für Unternehmen der Betriebsgastronomie konnten gute Abschlüsse erreicht werden, so z.B. bei Sodexo. Die ca. 5.000 Beschäftigten bekommen in zwei Stufen und als Festbeträge 310 Euro mehr (das sind im Ecklohn 13 Prozent, in der Einstiegslohngruppe 15 Prozent mehr) bei zwölf Monaten Laufzeit. Dazu konnte eine Streichung der untersten Lohngruppe sowie eine Einmalzahlung als Mitgliedervorteil nur für Gewerkschaftsmitglieder erreicht werden.

»Liefern am Limit« – die Kampagne bei Lieferando

2023 war das Jahr, in dem NGG erstmals bei einem Unternehmen der Essenslieferdienstbranche, beim Branchenprimus Lieferando, einen Tarifvertrag gefordert hat (siehe express 3-4/2023). Demonstrationen und sechs Streiks der Lieferfahrer:innen in Großstädten haben der Tarifkampagne »Liefern am Limit« im zurückliegenden Jahr große mediale Aufmerksamkeit gebracht und viele neue aktive Gewerkschaftsmitglieder. Der internationale Konzern Just Eat Takeaway hat bislang jegliche Tarifverhandlungen abgelehnt und versucht über Bonuszahlungen, die nur über schnelle Auslieferung und potentiell selbstgefährdendes Radfahren erreicht werden kann, der Wut und dem Einsatz der Beschäftigten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ein schneller Tariferfolg bei Lieferando war aus unserer Sicht nicht realistisch, auch wenn in anderen Ländern Tarifverträge zwischen dem Konzern und den Gewerkschaften abgeschlossen wurden. Ob der Konzern in Deutschland aufgrund des hiesigen Managements oder der Konzernzentrale in Amsterdam bislang eine Tarifblockade fährt, ist noch unklar. Für 2024 wird die Tarifkampagne bei Lieferando weiter fortgeführt und parallel die Mitglieder- und Aktionsbasis weiter ausgebaut.

Streik-Rekordjahr

Neben den durchgehend hohen Tarifabschlüssen charakterisiert das zurückliegende Tarifjahr 2023 aus Sicht der NGG eine Rekordzahl an Arbeitskämpfen: Annähernd 400 Arbeitskämpfe, davon 62 in der oben schon angesprochenen Tarifrunde Süßwarenindustrie. Das ist auch gemessen an den hohen Streikzahlen der NGG aus den vergangenen Jahren ein Rekordwert.

Besonders erfreulich hieran ist es, dass in vielen Fällen Streikpremieren dabei waren – Betriebe und Belegschaften, die noch nie (oder seit 30 Jahren nicht mehr) an Arbeitskämpfen teilgenommen haben. Die Beteiligung an den Streiks war durchgehend sehr hoch, und die Tendenz zu längeren Streikaktionen verfestigt sich: Noch vor wenigen Jahren waren Auftaktstreiks von zwei Stunden die Regel; in einer zweiten Streikwelle wurde die Zeit auf sechs bis acht Stunden gedehnt; mittlerweile sind achtstündige Streiks als Auftakt einer Aktionsphase der Normalfall, im Fortlauf einer Tarifrunde wird schichtübergreifend 16 oder 24 Stunden gestreikt. Das zeigt, dass Belegschaften auch längere Einzelstreiks innerhalb der Tarifrunden mittragen. Streiks von 16 oder mehr Stunden sind nicht mehr nur ein symbolischer Warnschuss für die Unternehmensführungen, sondern erzeugen erheblichen wirtschaftlichen Druck. Dadurch lassen sich auch die hohen Tarifabschlüsse erklären: In den über 400 Streiks wurde ein deutlich spürbarer Druck durch Arbeitsniederlegungen erzeugt und eine Ausweitung der Streikmaßnahmen, sollte es kein Verhandlungsergebnis geben, schien realistisch.

Zur NGG-Tarifbilanz des Jahres 2023 gehört also auch, dass viele tausend Mitglieder der NGG – und Unorganisierte, die zwar mitstreikten, aber nicht Mitglieder der streikführenden Gewerkschaft werden wollten – positive (erstmalige) Arbeitskampferfahrungen im zurückliegenden Jahr gemacht haben. Dies stellt einen reichen Erfahrungsschatz dar: Beteiligung an konfliktiven Tarifrunden führt zu deutlichen Lohnsteigerungen.

Der Blick auf das Tarifjahr 2024 stimmt somit optimistisch. Da viele der Streiks in Flächentarifgebieten oder Unternehmen durchgeführt wurden, die schon 2024 aufgrund der kurzen Laufzeit der Verträge in die nächste Tarifrunde starten, könnte dies für kämpferische Lohnrunden in 2024 sprechen. Die Wirkung gruppendynamischer Prozesse innerhalb von Belegschaften, die kollektiv in Arbeitskämpfe gegangen sind – gerade bei Streikpremieren fast immer gegen den ganz expliziten Druck oder Einschüchterungsversuche durch die Geschäftsführungen – ist kaum zu unterschätzen. Denn sie führt sowohl für die einzelnen Beschäftigten wie für die jeweiligen Belegschaftszusammensetzungen zur Bildung von gewerkschaftlichem Erfahrungswissen – letztlich ist jeder Streik auch eine politische Bildungsveranstaltung.

Streik: mehr als ein »Mittel letzter Wahl«

Die konfliktorientierte Ausrichtung der Tarifpolitik bei NGG hat sich somit auch im Jahr 2023 als richtig erwiesen. Der Streik ist hierbei für uns nicht das letzte Mittel, um eine stockende Tarifrunde zu einem akzeptablen Ergebnis zu führen. Dann wäre der Arbeitskampf lediglich die letzte Handlungsoption, wenn alle anderen Möglichkeiten der Tarifauseinandersetzung erfolglos und letztlich gescheitert wären. Das Ideal wäre in dieser Logik, ohne das »Hilfsmittel Arbeitskampf« auszukommen.

Umgekehrt steht aus unserer Sicht der Aufbau der eigenen Stärke und zentral des Streiks als wichtigstem Druckmittel am Anfang jeder strategischen Planung von Tarifrunden. Streiks mögen oftmals als sehr kurzfristig angesetzte Aktionen erscheinen. Die auf den Streik hinzielende betriebliche Gewerkschaftsarbeit – intensive Kommunikation mit den betrieblich Aktiven, die Planung von aufeinander aufbauenden, eskalierenden Betriebsaktionen u.v.m. – beginnen lange vor der eigentlichen Verhandlungsphase und sind zentrale Voraussetzung für Arbeitskämpfe.

Die Gewerkschaft NGG geht wegen der vielen Eintritte in den Tarifbewegungen mit einem Mitgliederplus aus dem Jahr 2023 – nach vielen Jahren mit Mitgliederverlusten.

Ausblick auf 2024

Für 2024 stellen sich vor diesem Hintergrund zum Teil sehr unterschiedliche Aufgaben für die vielen Tarifkommissionen. Einen erheblichen Nachholbedarf bei den Entgelten gibt es bei der Neuverhandlung von langlaufenden Tarifverträgen, die noch vor dem rasanten Anstieg der Inflation ab März 2022 abgeschlossen wurden. Hier sind die beiden Jahre der Hochinflationszeit, mit zusammengenommen 12,9 Prozent statistischer Inflationszahl, in den vereinbarten Tariflohnsteigerungen nicht einmal annähernd abgebildet. Die durchschnittliche tarifliche Lohnsteigerung im Jahr 2022 betrug über alle Branchen hinweg nur 2,7 Prozent.2 Der Ausgleich der hohen Inflation erfolgt gerade in langlaufenden Tarifverträgen also meist nachholend. Für mehrjährige Abschlüsse, die in 2021 und 2022 verhandelt und abgeschlossen wurden, ist daher bei einer Neuverhandlung im Tarifjahr 2024 ein kräftiges Lohnplus notwendig.

Aber auch für Tarifabschlüsse aus 2023, die mit einer Laufzeit von einem Jahr (oder knapp darüber mit 14 oder 15 Monaten Laufzeit) in 2024 zur Neuverhandlung anstehen, stellt sich die Aufgabe, die weiterhin hohe Inflation auszugleichen und zu übersteigen. Das zu betonen ist wichtig, denn laut Prognosen könnte die Inflation zum Zeitpunkt der anstehenden Verhandlungen 2024 bis auf den Wert der Zielinflation der EZB von zwei Prozent absinken. Die Arbeitgeberverbände und Unternehmen werden mit dem Argument der moderaten Inflation und unter Verweis auf ihre gestiegenen Energie- und Rohstoffkosten hohe Tarifforderungen ablehnen.

Dabei waren es gerade auch Unternehmen der Lebensmittelindustrie, die in der Hochinflationszeit 2022 und 2023 nicht nur die gestiegenen Einkaufspreise für Energie und Rohstoffe wie Zucker, Getreide, Kakao, Nüsse usw. an ihre Abnehmer, die Konzerne des Lebensmitteleinzelhandels im In- und Ausland, weitergeben haben. Die Lebensmittelindustrie konnte z.T. weit erhöhte Abnahmepreise durchsetzen und somit in den zwei zurückliegenden Jahren, die für Verbraucher:innen und die Arbeiter:innen ihrer Unternehmen Krisenjahre waren, selbst Extraprofite einfahren.

Spielräume für hohe Tarifsteigerungen in 2024 sind also in den Branchen der Lebensmittelindustrie vorhanden. Die Empfehlung des Hauptvorstandes der NGG für die Tarifkommissionen sind folgerichtig Forderungen von acht bis zehn Prozent Entgeltsteigerung für 2024.

Entlastung durch Arbeitszeitverkürzung und weitere qualitative Tarifforderungen

Neben hohen Entgeltabschlüssen sollen im Tarifjahr 2024 nach der Empfehlung des Hauptvorstandes auch weitere, qualitative Forderungen eine größere Rolle spielen. Der Gewerkschaftstag der NGG im November 2023 hat dafür neue Schwerpunkte gesetzt: In den Tarifverträgen zur Altersvorsorge, also der Tarifrente, sollen die verpflichtenden Arbeitgeberbeiträge deutlich erhöht werden.

Eine Entlastung der Beschäftigten soll z.B. durch eine Reduzierung der Arbeitszeit erreicht werden – klassisch als Reduzierung der Wochenarbeitszeit, oder u.a. durch mehr Schicht- und Altersfreizeittage, möglicherweise durch die Einführung einer neuen Sonderzahlung (»Entlastungsgeld«), deren Verwendung die Beschäftigten selbst wählen dürfen (Auszahlung oder bezahlte freie Tage). Für den Ausstieg aus dem Arbeitsleben vor dem Alter von 67 braucht es eine gut finanzierte Altersteilzeit.

Diese und weitere qualitative Forderungen werden sich in vielen Fällen nur durch Kündigungen und Verhandlung von Manteltarifverträgen durchsetzen lassen. Hierfür aber braucht es eine lange und intensive Vorbereitung und Konzentration auf durchsetzungsstarke Tarifgebiete.

Der gesetzliche Mindestlohn

Die Erhöhungen des gesetzlichen Mindestlohnes auf 12,41 Euro zum 1. Januar 2024 und 12,82 Euro zum 1. Januar 2025 liegen weit unterhalb der statistischen Lohnarmutsgrenze. Die von der Mindestlohnkommission gegen die Stimmen der Gewerkschaften durchgesetzten niedrigen Erhöhungsschritte sind auch deshalb enttäuschend, weil sie Maßgaben der EU-Mindestlohnrichtlinie – zentral darin: ein jeweiliger nationaler Mindestlohn solle 60 Prozent des Medianlohnes betragen – komplett ausblenden. Die Arbeitgebervertreter:innen in der Kommission hatten verlautbart, dass für sie die EU-Mindestlohnrichtlinie nicht maßgebend sei. Das aber ist ein Trugschluss, denn die Richtlinie muss bis Ende 2024 in deutsches Recht umgesetzt werden. Wie das geschehen soll, wenn Teile der staatlich eingesetzten Mindestlohnkommission offenbar keinen Handlungsbedarf erkennen, müssen die Bundesregierung und die drei Regierungsparteien beantworten. Eine Änderung des Mindestlohngesetzes, damit die Mindestlohnkommission klare Vorgaben bekommt? Oder eine weitere, außerordentliche Anhebung des Mindestlohnes auf einen Wert, der Teilhabe, Armutsfestigkeit und eine Höhe von 60 Prozent des Medianlohnes gewährleistet?

Zusammen mit der Empfehlung, alle Entgelte um die »Marke acht bis zehn Prozent« tabellenwirksam, also dauerhaft anzuheben, sind ambitionierte Ziele für die Tarifkommissionen und Gewerkschaftsmitglieder ausgerufen. Wie wird das »Jahr Eins« nach dem außergewöhnlichen Tarifjahr 2023? Geht es zurück zum Status der Tarifarbeit vor der Hochinflation, oder lässt sich eine Tarifdynamik, die auf Konfliktorientierung setzt, auch 2024 fortsetzen?

Freddy Adjan ist stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft NGG, Johannes Specht ist Leiter der Tarifabteilung beim Hauptvorstand der Gewerkschaft NGG.

*Dieser Artikel erschien erstmals in: express 1 / 24