NGG präsentiert Untersuchung des Pestel-Instituts Mehr "Lohn-Fairness": Deutschland braucht Neujustierung der Löhne

Mehr „Lohn-Fairness“: Deutschland braucht Neujustierung der Löhne

Bremen, den 15. November 2023

„Mehr Lohn-Fairness“ gefordert: Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hat eine neue Lohn-Debatte angestoßen. Auf ihrem Gewerkschaftstag in Bremen hat sich die NGG für ein „Neujustieren der Löhne“ ausgesprochen. Sie warnt dabei vor einer „gefährlichen gesellschaftlichen Spaltkraft durch Niedriglöhne“. Gut 10 Millionen Menschen arbeiten derzeit nach Angaben der NGG für einen Stundenlohn bis 14 Euro. Das geht aus einer Untersuchung zum „Fairness-Check der Arbeit in Deutschland“ hervor, die das Pestel-Institut (Hannover) im Auftrag der NGG gemacht hat. Die Ergebnisse stellte die NGG am Mittwochmittag bei einer Pressekonferenz auf ihrem Gewerkschaftstag in Bremen vor.

Ein Aspekt ist dabei auch die Belastung öffentlicher Kassen: „Heute muss der Staat einem Großteil der Menschen, deren Lohn die 14-Euro-Marke nicht überschreitet, finanziell unter die Arme greifen, obwohl sie arbeiten. Allein durch Wohngeld unterstützt der Staat sie in diesem Jahr mit rund 5 Milliarden Euro“, sagt der wiedergewählte Vorsitzende der NGG, Guido Zeitler. Außerdem hätten der Staat und die Sozialkassen im Niedriglohnbereich bei den Einnahmen das Nachsehen: „Lohnsteuer und Sozialabgaben fallen bei Niedriglöhnen geringer aus. Fiskalisch müssten höhere, fairere Löhne also auch im Interesse des Staates sein“, so Zeitler.

Dazu komme ein wichtiger gesellschaftspolitischer Aspekt: „Wer an der unteren Lohnkante arbeitet, der fühlt sich oft abgehängt. Und das ist gefährlich. Das wird mehr und mehr zum Risiko für den Zusammenhalt in Deutschland. Denn am Ende geht auch die Demokratie übers Portemonnaie“, sagt NGG-Chef Guido Zeitler auf dem Gewerkschaftstag in Bremen.

Es bleibe nur eine Konsequenz: „Deutschland muss beim Lohn mehr zusammenrücken. Gerade bei den unteren Löhnen muss es deutlich nach oben gehen. Der Tariflohn muss der Kompass für den Wert der Arbeit sein, nicht der Mindestlohn“, so Zeitler. Hier müsse der Bund schleunigst ein Zeichen setzen: Das im Koalitionsvertrag der Ampel versprochene Bundestariftreuegesetz garantiere, dass der Staat selbst nicht zu Dumpinglöhnen arbeiten und produzieren lasse. Das betreffe auch die Lebensmittelproduktion – vom Einkauf der Verpflegung für die Bundeswehr über die Bundestagskantine bis zum Mittagessen in der Schul- und Kitakantine.

„Der Tariflohn ist ein wichtiger Meilenstein für mehr Lohn-Fairness in Deutschland“, so der NGG-Vorsitzende. Zeitler forderte Christian Lindner und die FDP auf, ihren „Widerstand gegen ein Lohn-gerechteres Land aufzugeben“ und ein Tariftreuegesetz auf Bundesebene nicht länger zu blockieren.

Tariflöhne seien zudem ein wesentlicher Faktor für die Alterssicherung. Nach Berechnungen des Pestel-Instituts werden in den kommenden zehn Jahren 12,5 Millionen Menschen in die Altersgruppe „67 plus“ rutschen und das Renteneintrittsalter erreichen. Es handele sich hierbei um geburtenstarke Jahrgänge, von denen ein erheblicher Teil im Alter mit finanziellen Problemen zu kämpfen haben werde: „Das Arbeitsleben vieler Menschen der Boomer-Generation war von einem Mangel an Arbeitsplätzen, von prekärer Beschäftigung und Niedriglöhnen geprägt. Armut im Alter wird daher in den kommenden Jahren ein Phänomen von wachsender Bedeutung sein. Viele werden auf Bürgergeld angewiesen sein. Hier rächt sich, dass der Staat beim Niedriglohnsektor viel zu lange weggeschaut und ihn toleriert hat“, macht NGG-Chef Zeitler deutlich.

Das Pestel-Institut hat dazu auch den Lohn für ein „armutsfestes Leben im Alter“ berechnet: „Wenn ein Beschäftigter 45 Jahre in Vollzeit arbeitet, dann sollte er heute mindestens 16,50 Euro verdienen, um – auf der Basis der geltenden Regelungen für die gesetzliche Rente – eine Bruttorente zu bekommen, die mit 1.500 Euro deutlich oberhalb der Grundsicherung liegt“, sagt der Leiter des Pestel-Instituts, Matthias Günther. Wer – und das seien viele Arbeitskräfte – nur 40 Jahre schaffe, könne nur eine Bruttorente von gut 1.300 Euro erwarten.

Vor dem Hintergrund des Ausscheidens der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben erwartet die NGG in den kommenden Jahren einen „noch massiveren Fachkräfte-Schwund“ in weiten Teilen der Lebensmittelherstellung: von der Back-, Fleisch- und Milch-Industrie bis zur Getränke-, Zucker- und Süßwaren-Industrie. Ebenso für die Gemüseproduktion, für Bäckereien, Fleischereien und Brauereien. Vor allem aber auch in der Hotellerie und Gastronomie: Hier gebe es einen „regelrechten Hilfskräfte-Schub“. „Hotels, Restaurants und Gaststätten versuchen, den massiven Verlust von sozialversicherungspflichtig beschäftigten Fachkräften durch Mini-Jobber und angelernte Teilzeitkräfte aufzufangen“, sagt NGG-Vize Tiedge. So habe sich Zahl der Hilfskräfte in den vergangenen 4 Jahre von 242.000 auf 480.000 nahezu verdoppelt. Dieser Trend werde künftig mehr und mehr auch in anderen Niedriglohn-Branchen zu beobachten sein: „Den Betrieben rutschen die Belegschaften weg – und damit die Fachkräfte. Aber auch angelernte Kräfte werden weggehen“, so Tiedge.

„Das Gegenmittel sind attraktivere Jobs mit attraktiveren Löhnen. Noch pokern die Arbeitgeber hoch: Sie betreiben Tarif-Flucht. Ein Beispiel dafür sind Hotellerie und Gastronomie. Dabei muss allen klar sein: Wer künftig unter dem tariflichen Lohn-Radar arbeiten und produzieren lässt, der verliert über kurz oder lang seine Leute. Denn die ‚Job-Mobilität‘ auf dem Arbeitsmarkt wird zunehmen“, sagt die stellvertretende Vorsitzende der NGG, Claudia Tiedge. Um dem entgegenzuwirken, müssten viele Verantwortliche in Industrie und Handwerk „den Wert fairer Löhne erst noch begreifen“: „Tariflöhne sind Kit für die Belegschaft. Sie sind für Unternehmen die Chance, Beschäftigte zu binden. Und vor allem auch dafür, Nachwuchs zu gewinnen“, so Tiedge.

Scharfe Kritik übt die NGG an „schwarzen Schafen unter den Arbeitgebern“: So hat die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls im ersten Halbjahr dieses Jahres gut 27.000 Arbeitgeber kontrolliert und dabei rund 78.340 Ermittlungsverfahren eingeleitet. 11.570 der Fälle registrierte die FKS dabei allein in der Gastronomie und im Beherbergungsgewerbe. 250 Ermittlungsverfahren gab es in der Fleischwirtschaft. Die NGG beruft sich dabei auf Angaben, die das Bundesfinanzministerium auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Susanne Ferschl (Linke) gemacht hat.

Demnach registrierte der Zoll im ersten Halbjahr auch 1.620 Mindestlohn-Verstöße. 510 Fälle davon gab es im Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe. Wegen illegaler Praktiken entgingen dem Staat und den Sozialkassen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres rund 313,3 Millionen Euro – an nicht gezahlten Steuern sowie an vorenthaltenen Beiträgen für die Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung.

Insgesamt verhängten die Hauptzollämter im ersten Halbjahr Geldstrafen, Buß- und Verwarnungsgelder in Höhe von 40,2 Millionen Euro, 4,9 Millionen Euro davon allein gegen Unternehmen im Hotel- und Gaststättengewerbe. Besonders schwere Fälle wurden auch strafrechtlich verfolgt: Insgesamt leitete der Zoll im ersten Halbjahr bei Verstößen, die die Finanzkontrolle Schwarzarbeit aufdeckte, 53.941 Strafverfahren ein.

„Insgesamt handelt es sich bei den aufgedeckten Fällen allerdings nur um die Spitze des Eisbergs. Denn wenn man quer durch alle Branchen als Unternehmen damit rechnen kann, dass nur alle 40 Jahren ein einziges Mal ein Kontrolleur der Finanzkontrolle Schwarzarbeit vorbeikommt, dann ist das Kontrollrisiko nahe Null. Im Hotel- und Gaststättengewerbe kontrolliert der Zoll nur alle 15 Jahre. Auch das ist ein kalkulierbares Risiko, das viele Unternehmen in Kauf nehmen. Und in der Fleischwirtschaft wird – rein rechnerisch – nur alle 19 Jahre geprüft. Das reicht einfach nicht, um für die Disziplin einer sauberen Lohnzahlung und Beschäftigung zu sorgen“, sagt Freddy Adjan.

Der stellvertretende Vorsitzende der NGG spricht sich dafür aus, das Prüfrisiko für Unternehmen deutlich zu erhöhen. „Die FKS braucht mehr Personal. Nur so ist eine effektivere Kontrolle des Arbeitsmarktes möglich“, so Freddy Adjan.

  • Mehr zum Gewerkschaftstag der NGG: www.ngg.net/gewerkschaftstag
    (Mit ständig aktualisiertem Pool an Pressefotos vom Gewerkschaftstag – auch von der PK.)